Die Sehnsucht nach Geborgenheit

Die Sehnsucht nach Geborgenheit

Die Sehnsucht nach Geborgenheit begleitet uns das ganze Leben. Warum es sich bei diesem Gefühl um ein großes Wunder handelt und wie wir lernen können, mehr Geborgenheit zu geben, aber auch zu erfahren.

Es gibt diese großartige Szene in dem Pixar-Animationsfilm „Ratatouille“ aus dem Jahr 2007: Der verbitterte Restaurantkritiker Ego bekommt ein einfaches Gemüsegericht vorgesetzt. Er zückt schon griesgrämig den Stift, um sein übliches vernichtendes Urteil zu notieren. Doch als er die Gabel zum Mund führt und den Geschmack von geschmorten Auberginen, Zucchini, Tomaten und Zwiebeln auf seiner Zunge spürt, passiert etwas Unglaubliches. Plötzlich fühlt er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Und zwar zu jenem Tag, als er als kleiner Junge vom Fahrrad gefallen war und mit verweinten Augen und blutigen Knien nach Hause kam. Seine Mutter bringt ihm zum Trost einen dampfenden Teller Ratatouille und als sie ihm dabei zärtlich über die Wange streicht, hat der kleine Ego allen Schmerz vergessen. Er lächelt. Und er lächelt immer noch, als er gedanklich schon wieder zurück im Restaurant ist, zum ersten Mal in diesem rührenden Film. Ganz gleich, ob Kinder oder Erwachsene, die Zuschauer verstehen sofort, was da gerade passiert ist: Da erlebt jemand zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder so etwas wie Geborgenheit. Und sie erkennen, dass genau dies der Schlüssel war, um das harte Herz dieses Mannes zu erweichen.

Die Sehnsucht nach Geborgenheit

Was der Film so wohlig-warm rüberbringt, lässt sich nicht leicht in Worte fassen. Lyriker würden diesen Seinszustand als „die Seele ist Zuhause“ oder „eine Umarmung des Herzens“ beschreiben. Das trifft es ganz gut: Wer geborgen ist, fühlt sich aufgehoben, beschützt, gewärmt, gehalten, bedingungslos angenommen und ist frei von Angst, Misstrauen und Schuldgefühlen. Die Sehnsucht nach Geborgenheit ist so essentiell wie universal und sie hört nicht einfach auf, wenn wir erwachsen geworden sind, sondern bleibt vom ersten Herzschlag bis zum letztem Atemzug bestehen.

Frühchen, die mittels der sogenannten Känguru-Methode mehrere Stunden am Tag auf den Bauch ihrer Mutter gelegt werden und zudem mit Geräuschen bespielt werden, die für sie ähnlich dumpf klingen, als sie noch im Mutterleib waren, entwickeln sich besser, als Babys, die nur im Brutkasten bleiben. Ebenso hat sich gezeigt, dass Demenzkranke im Schnitt zwei Jahre länger leben, wenn sie nicht in ein Heim umziehen müssen, sondern zuhause in ihrer vertrauten Umgebung gepflegt werden. Geborgenheit ist ein Stresskiller, ein Angstlöser, ja der wesentliche Klebstoff, der Familien, Freundschaften, Partnerschaften und nicht zuletzt die Beziehung zu sich selbst zusammenhält.

Doch warum ist sie so fundamental? Und warum ist alles so schrecklich, wenn es an Geborgenheit fehlt? „Weil sie lebenswichtig ist“, weiß der Berliner Therapeut, Pädagoge und Autor Dr. Udo Baer. „Geborgenheit ist das Erste, was wir erfahren, noch vor der eigenen Geburt. Den Schutz und die Wärme, die wir im Mutterleib gespürt haben, suchen und brauchen wir unser ganzes Leben.“

Geborgenheit ist also unser Urzustand, unsere früheste Empfindung überhaupt, sozusagen das Gefühl, mit dem alles begann, aus dem wir entstanden sind.  Und so ist die Sehnsucht nach ihr so etwas wie eine unbewusste, vorgeburtliche Erinnerung. Natürlich gibt es dorthin kein Zurück mehr, dennoch haben wir den instinktiven Drang, dem „Gebärmuttergefühl“ wieder so nahe wie möglich zu kommen. Zum Beispiel, indem wir ein heißes Bad nehmen, uns in eine warme Decke kuscheln oder einem Hörbuch lauschen, dessen Erzähler eine besonders sanfte Stimme hat.

Das angeborenes Urvertrauen kann zerstört werden

Ob aus evolutionsbiologischen Gründen oder welchen auch immer – unsere Seele ist für Nicht-Geborgenheit einfach nicht geschaffen. Fehlt es an ihr, kann sie das nur bis zu einem gewissen Grad aushalten. Das haben bereits zahlreiche grausame Laborversuche, auch Kasper-Hauser-Versuche genannt, bewiesen, in denen Tierbabys zwar mit Nahrung versorgt wurden, ihnen aber die körperliche Nähe zur Mutter verwehrt blieb. Mit dem Ergebnis, dass die Tiere extreme Verhaltensstörungen entwickelten oder gar starben. Doch braucht es solche zweifelhaften Experimente nicht, um zu verstehen, was nicht vorhandene Nähe mit der Psyche anstellt. Udo Baer arbeitet seit über 30 Jahren therapeutisch mit Menschen zusammen, denen die Geborgenheit durch Traumata oder mangelnde Zuwendung in der Kindheit abhanden gekommen ist. „Das Gefühl, ständig bedroht und schutzlos ausgeliefert zu sein, nicht wahrgenommen werden, Angst zu haben, ohne zu wissen warum, sich schuldig zu fühlen, ohne zu wissen warum – das alles zerstört unser eigentlich angeborenes Urvertrauen ungemein.“

Es müssen gar nicht mal die eigenen Erlebnisse sein, welche die Grundfesten so erschüttern. Manchmal ist es auch nur ein kaltes Schweigen, das die Familie belastet, eine alte Geschichte über die niemand spricht, weiß der Therapeut. Die Kinder wissen meist gar nicht, was eigentlich los ist. Dennoch spüren sie ganz genau, dass etwas nicht stimmt und in solch einer Atmosphäre kann auch keine Geborgenheit entstehen. Diese Erfahrung prägt wiederum den Umgang mit anderen Menschen und schließlich mit den eigenen Kindern. Oft wählen sie zudem bewusst Partner, die genau immer wieder in ihre Wunde hineinstechen. Ein Teufelskreis. „Dabei sind es gerade die Kinder, die uns zeigen, wie Geborgenheit funktioniert“, sagt Baer. „Sie teilen uns direkt mit, wenn sie kuscheln wollen, etwas vorgelesen haben wollen oder getröstet werden müssen.“ Sie wissen auch, dass Geborgenheit nicht aus sich selbst heraus entsteht, sondern dass sie dafür auf andere angewiesen sind. Sei es der liebevolle Blick der Mutter, welcher ausdrückt „ja, ich sehe dich“ oder die beruhigende Antwort des Vaters, wenn das Kind sich plötzlich im Nebenzimmer aufschreckt und sich rufend vergewissert, ob er noch da ist.

Manchmal muss es vor dem Einschlafen immer wieder dasselbe Gutenachtmärchen sein, weil die Vertrautheit der Geschichte und die Erzählstimme des Elternteils Sicherheit schafft. Und wehe, es wird auch nur ein Wort verändert! Kinder fordern diese schützenden Rückverbindungen mit all ihren Sinnen ein, sagt Baer. Sie wollen gehört und gesehen werden, sie wollen schmecken, tasten, schnuppern und gehalten werden. Und das immer wieder. Bleibt das aus, entsteht irgendwann ein Knacks, bis das Kind schließlich ganz verstummt. Das kann sogar so weit führen, dass sie später als Erwachsene vor ihrem Therapeuten sitzen und überhaupt keine Antwort mehr darauf wissen, was Geborgenheit eigentlich ist. Auch das hat Udo Baer bereits in seiner Praxis erfahren.

Zum Glück sind solche Fälle eher die Seltenheit. So ergab die aktuelle Shell-Jugendstudie, dass 70 Prozent der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen sich von ihren Familien gehalten fühlen, also sich völlig auf sie verlassen können. Komme, was wolle.

Doch selbst, wer in Geborgenheit aufwächst, ist natürlich weiterhin auf sie angewiesen. Erst recht in einer immer unübersichtlicher werdenden und rasant sich verändernden Welt. Auf der einen Seite gilt es, wachsam zu bleiben, vor allem gegenüber sich radikalisierenden Menschengruppen, die im Namen des „Heimatschutzes“ an eine vermeintlich verloren gegangene Geborgenheit appellieren, aber mit ihrer Missgunst und der Verbreitung falscher Ängste gerade Nährboden für das Gegenteil schaffen. Andererseits prasseln Nachrichten, Schreckensbilder und Terrormeldungen viel zu konzentriert und ohne Pause auf uns ein, sodass sie, statt zu informieren, für Unbehagen sorgen. In dieser Umgebung noch Platz für Wärme, Liebe, Akzeptanz, innere Ruhe, Schutz, Vertrauen und Wohlbefinden zu schaffen, ist alles andere als einfach.

Geborgenheit ist ein derart wertvolles Gut, dass sich sogar verkaufen lässt. Die Werbung macht sich diese Sehnsucht schon länger zunutze, indem sie Waschmittel anpreist, als ob es Familien sanieren könne oder es nur eines ganz bestimmten Joghurts zum harmonischen Sonntagsfrühstück bedarf. Ein großer deutscher Gebäckhersteller spricht es in seinem Werbeclip sogar ganz offen aus: Dieser Keks ist ein Stück Geborgenheit. Ob Schokolade, Kuchen oder Fleckenentferner – einmal gekauft, haben sich alle lieb. So das Versprechen.

Dem setzt der vor zwei Jahren aufgekommene Hygge-Trend noch eines drauf. Das Wohn- und Lifestyle-Konzept stammt ursprünglich aus Dänemark und bedeutet so viel wie „gemütlich“ oder „behaglich“. Damit sich die gewünschte Heimeligkeit auch einstellt, braucht es bestimmte Decken, Kissen, Bücher, Möbel, Rezeptsammlungen und möglichst einen eigenen Kamin, was alles wiederum sehr viel Geld kostet. Obendrein gibt es zahlreiche Ratgeber, die erklären, wie man es sich so richtig „hygge“ macht. Doch selbst wenn man in dicke Wollsocken schlüpft und sich mit einem Becher heißen Kakao auf die Couch begibt, garantiert das noch lange nicht, dass sich kurz darauf die absolute Geborgenheit einstellt.

Alle Sinnesebenen sind wichtig

So einfach ist das natürlich nicht, obwohl die Hygge-Welle in den letzten Jahren einen ganz wesentlichen Aspekt trifft. Baer bezeichnet diesen als „Einhausen“, damit meint er den Prozess, seinen Lebensraum mit allen Sinnen zu erfahren und ihn so zu seinem erlebten Zuhause zu machen. Babys machen das ganz instinktiv, indem sie zunächst aufmerksam ihre Umgebung betrachten. Wo sind die Augen der Mutter? Wo ist die Zimmerdecke? Später, wenn sie krabbeln können, beginnen sie, die Räume zu erkunden, lernen, wo welchen Möbel stehen und dass sie sich besser nicht an ihnen stoßen sollten. Irgendwann ist alles so vertraut und so selbstverständlich, dass sich alleine schon beim Nachhausekommen Geborgenheit einstellt.

Einhausen ist nicht nur etwas, dass in der eigenen Wohnung passiert, sondern auch in der Stadt oder auch in der Region, in der man lebt. Deshalb fühlt es sich auch so beziehungslos an, wenn man in eine neue Umgebung zieht. Alles ist auf einmal ungewohnt, selbst das eigene Schlafzimmer ist fremd. Erst wenn wir uns darin eingehaust haben, können wir sagen: Das ist mein Zuhause. Es handelt sich dabei um einen inneren Prozess, bei dem Äußerlichkeiten durchaus unterstützend sein können. „Wärme schaffen, sich eine Kerze anzünden, ein vertrautes Musikstück hören, die Katze streicheln, sich etwas Besonders zu essen machen und vor allem, immer in sich hineinhören, was einem gut tut und was die eigenen Bedürfnisse gerade sind“, sagt Baer.

Geborgenheit entsteht durch Wiederholungen. Machen wir die Erfahrung, dass uns eine bestimmte Handlung, ein bestimmter Ort oder die Gegenwart eines besonderen Menschen in uns ein Wohlgefühl auslöst, wird daraus irgendwann ein Ritual. Wann immer wir uns unsicher und verloren fühlen, können wir auf dieses Muster zurückgreifen.

Die große und die kleine Seele

Doch kann es vorkommen, dass jene vertrauten Rituale plötzlich nicht mehr funktionieren, es ist etwas passiert, das die ganze Welt scheinbar aus den Angeln gehoben hat. „Der Verlust der kleinen Seele“, sagt Baer dazu. Er hat die Metapher von einem indianischen Volk in den Anden übernommen, die glauben, dass jeder Mensch mit zwei Seelen geboren wird. Die große Seele löst sich erst mit dem Tod, doch die kleine Seele kann bereits während des Lebens abhandenkommen. Zum Beispiel durch einen großen Schrecken, ein Trauma oder einen tragischen Verlust. Die Indianer gehen dann an den Ort, wo die kleine Seele verloren gegangen ist, um sie mit Hilfe der Medizinmänner wieder zurückzuholen.

Sich den wirklich wichtigen Dingen widmen

Was können wir tun, um mehr Raum für Geborgenheit zu schaffen? Baer rät: „Eigensinn haben, also Sinn für das Eigene, Dinge nicht unausgesprochen zu lassen, besonders wenn sie die ganze Familie belasten, sich stets fragen: was will mein Herz und warum?“ Geborgenheit geht mit Gelassenheit einher und auch mit dem Gespür, zu wissen, was nicht gut tut. Das kann bedeuten, die Nachrichten einmal nicht einzuschalten, sich der Flut an Bildern und Horror-Meldungen nicht mehr auszusetzen. Angstmachern gezielt aus dem Weg gehen und toxische Menschen zu meiden. „Es geht nicht darum, sich aus dem Leben zurückzuziehen, sondern sich den Feinden der Menschlichkeit abzuwenden“, stellt Baer klar. Im Gegenzug bedeutet das, sich vermehrt den wirklich wichtigen Dingen zu widmen: Gemeinsames Singen, Backen, das Fahrrad reparieren, ein Ehrenamt übernehmen, in der Natur meditieren. „Auch wenn wir als Kind zu wenig Geborgenheit erlebt haben, heißt das nicht, dass wir für immer darunter leiden müssen. Jeder hat die Kraft von sich aus zu ihr zurückzufinden.“ Das ist das Großartige an diesem Gefühl. Es ist so tief in uns verwurzelt, dass es niemals ganz ausgetrieben werden kann.

Geborgenheit heißt auch, selbstwirksam zu sein, also selbst etwas bewirken zu können. Ihre Wiederentdeckung kann das Leben verändern, so wie das des griesgrämigen Restaurantkritikers aus „Ratatouille“. Und auch ein Blick in die Kunst offenbart uns, was dieses große Wort eigentlich bedeutet. Da wäre das berühmte Bild von Picasso von einem kleinen Mädchen, das eine Taube liebevoll an sich schmiegt oder die wundervoll zarten Gemälde von Marc Chagall. Wie kaum ein anderer Maler, vermochte er es, Liebende darzustellen, die sich eben nicht wilder Leidenschaft hingeben, sondern deren Seelen sich tief im Innersten sichtbar berühren. Besonders schön hat es Herbert Grönemeyer in seinem Song „Halt’ mich“ ausgedrückt: „Fühl’ mich bei dir geborgen, setz’ mein Herz auf dich, will jeden Moment genießen, Dauer ewiglich, bei dir ist gut anlehnen, Glück im Überfluss, dir willenlos ergeben, find’ ich bei dir Trost.“

Das macht Geborgenheit zu einem sinnlichen Heilmittel und damit zu einem ganz großen Wunder.

Dr. Udo Baer

Dr. Udo Baer ist ein Berliner Pädagoge, Therapeut und Autor. Sein Forschungs- und Therapie-Schwerpunkt liegt insbesondere auf den Gebieten Traumatherapie und Demenz. Zusammen mit seiner Ehefrau Gabriele Frick-Baer begründete er das Konzept „Kreative Leibtherapie“, bei dem das Erleben des Menschen stets im Mittelpunkt steht. Das Paar hält Vorträge in ganz Deutschland und bringt zudem die Buchreihe „Bibliothek der Gefühle“ heraus, zu dem auch der Band „Das Wunder der Geborgenheit“ gehört. www.baer-frick-baer.de

Text: Friederike Ostermeyer

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